Genesungskompetenzen – gesund sein und gesund werden
Ein wichtiger Unterschied zwischen der Medizin und der Komplementärtherapie liegt bekanntlich in der Herangehensweise. In der klassischen Medizin wird häufig in das körperliche System eingegriffen, um eine Verletzung zu lösen. In der Komplementärtherapie unterstützen wir TherapeutInnen die KlientInnen bei der Genesung. Dies tun wir, indem wir unter anderem ihre Genesungskompetenzen stärken – durch gezielte Verbesserung der Resilienz und der Ressourcen.
In diesem Artikel möchten wir ein paar Fragen stellen: Was ist Genesung eigentlich? Wie verläuft ein Genesungsprozess und was hat es mit Genesungskompetenz auf sich?
Und warum haben wir uns für dieses Thema in dieser Ausgabe entschieden?
Der Begriff Genesung benennt den Prozess des Gesundwerdens, also der Herstellung oder der Wiederherstellung von körperlicher oder seelischer Unverletztheit. Unsere Körper und Geister sind sehr komplex, deshalb sind sie auch vulnerabel. Verletzungen und Krankheiten können uns in vielen Situationen widerfahren, auch wenn wir uns vor ihnen schützen, so gut wir können. Hier setzt nun die Genesung ein, der innere Heilungsprozess. Körper und Geist starten ihre Reise und kehren Stück für Stück zu alter, voller Funktionstüchtigkeit zurück. Die Frage, wann wir „voll genesen“ sind, kann sehr individuell sein. Obwohl das höchste Ziel das Wiedererlangen des Zustands vor dem Einschnitt ist, kann es in manchen Fällen auch genügen, sein Genesungsziel auf selbstbestimmtes Handeln und die Teilnahme am Leben zu legen. Das kennt jede Person, die mal einen gebrochenen Arm hatte und sich danach gesehnt hat, wieder beide Arme benutzen zu können. In anderen Fällen kann das Genesungsziel sein, stärker aus einer Verletzungssituation herauszukommen, als man es vorher war. Besonders unter SportlerInnen ist diese ehrgeizige Haltung häufig zu beobachten. Alle Szenarien haben jedoch gemeinsam, dass ein stetiger Wandel hin zur Integrität stattfindet – mal mit bescheidenen Zielen, mal mit ganz grossen Zielen.
Nun die Frage: Wie geschieht ein Genesungsprozess? Die Lösung steckt bereits im Wort selbst: Genesung ist ein Prozess. Genesung ist nichts, was gemacht wird, sondern sie geschieht. Denken wir wieder an den gebrochenen Arm. Ein Chirurg kann zwar den Knochen wieder an die richtige Stelle rücken, aber den Gips trägt man danach mehrere Wochen – bis die Knochen wieder zusammengewachsen sind. Durch die Aufwendung von Zeit, Geduld und Zuneigung entfaltet der Körper in diesen Situationen sein unfassbares Potential zur Selbstreparatur. Nachdem es vorhin noch hiess, der menschliche Körper sei komplex und vulnerabel, kann man hier hinzufügen, dass er gleichzeitig enorme Kräfte der Genesungskompetenz in sich trägt. Bei der Genesung greifen wir auf dieses Wissen zurück, das uns innewohnt. Wir wissen, wie man mit Verletzungen umgehen kann, körperlich wie seelisch.
Hier kommen wir als TherapeutInnen ins Spiel, da wir in der Lage sind, die Genesungskompetenz unserer KlientInnen zu unterstützen und zu verbessern. Es beginnt schon mit der inneren Haltung. Wir wissen: Unser Körper ist stark und kann mit vielen Einflüssen von aussen sinnvoll umgehen. Sich dieser Tatsache bewusst zu werden, hilft uns dabei, den Genesungsprozess zu unterstützen. Ebenso ist es hilfreich, über die eigenen Ressourcen und Möglichkeiten Bescheid zu wissen. Was tut mir gut? Was lässt mich gesund werden? Auch diese Fragen können dazu beitragen, die Genesung voranzutreiben.
Dazu ist auch wichtig, dass wir mehr sind als nur unsere Körper. So wie körperliche und geistige Gesundheit eng verbunden sind, ist körperliche Genesung immer auch verbunden mit geistiger Genesung. Im Fall des gebrochenen Arms kommt es neben den eingeschränkten Fähigkeiten im Alltag auch zu seelischen Veränderungen. Man ist unterbewusst vorsichtig, wenn es um die Belastung des Arms geht. Man erkennt auch die eigene Beschränktheit und Abhängigkeit von anderen. Erst mit oder nach der körperlichen Genesung können wir uns neu darauf besinnen, auch die geistige Lücke zur Integrität wieder zu schliessen. Was am Ende bleibt, ist die Erfahrung, wie das Leben mit einer Einschränkung ist. Diese Erfahrung dürfen wir gerne annehmen, denn sie ist wertvoll für den zukünftigen Umgang mit eigenen Verletzungen oder Verletzungen anderer Menschen. Sie verbessert unsere Selbstwahrnehmung, unsere Empathie und kann als Ressource genutzt werden. Auf diese Weise hilft uns die Genesung, stärker aus einem Zustand der Verletzung zurückzukehren, als wir vorher waren.
Dazu kommt die Beziehung zwischen uns TherapeutInnen und den KlientInnen: Das Vertrauen, das wir uns und ihnen in diesen Zeiten des Gesunden geben und voller Zuversicht mit den Lebensbewegungen gehen, schenkt uns allen eine grosse Kraft.
Sich dieses Vertrauens bewusst zu werden lohnt sich besonders in den Zeiten, in denen der Genesungsprozess andauert – so wie wir alle dies gerade erfahren dürfen.
„Am Ende wird alles gut, und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.“
Oscar Wilde
Zum Abschluss möchte ich wieder ein paar offene Fragen rund um das Thema Genesung stellen, die du für dich beantworten darfst: Was macht dich krank? Und was macht dich gesund? Wie nimmst du Genesung bei dir selbst wahr? Ist Genesung für dich ein Prozess, den du aktiv beeinflussen kannst? Welche Mittel oder Ressourcen nutzt du, um deine Genesungskompetenzen zu stärken? Gibt es einen konkreten Genesungsprozess, aus dem du stärker herausgekommen bist als zuvor? Was waren hier deine Erkenntnisse?
Liebe und vor allem gesunde Grüsse
Claudia Per